Von der emotionellen Tränensekretion bei Rindern
Beim Stöbern in alten Unterlagen stießen wir auf vor einem guten halben Jahrhundert in tierärztlichen Zeitschriften veröffentliche Artikel, die sich mit dem Gefühlsleben der Rinder befassen. Autor war kein gefühlsduseliger Tierschützer, sondern ein in Wissenschaft und Praxis tätiger Tierarzt, Dr. Franz Krawarik, zuletzt Leiter einer der damals üblichen Besamungsstationen. Da wir uns vorne mit der Frage der Verbesserung des Loses von Nutzrindern befassen, ist es vielleicht hilfreich, die alten veterinärmedizinischen Erfahrungen wieder hervorzuholen.
Zwei Ansichten sind es, schreibt Krawarik, die unsere Einstellung zu den Tieren (in der Besamungsanstalt) bestimmen:
1. Die Stiere sind gleich anderen Haustieren hochentwickelte Lebewesen und haben als solche ausgeprägte Individualität mit mannigfachen Eigenschaften, verschiedenen Temperamenten und Anlagen, sie sind demnach voll zu nehmende Tier-Per-sönlichkeiten.
2. Die psychische Entwicklung von Bullen ist der menschlicher Kinder vergleichbar und wird gekennzeichnet durch Natürlichkeit ihres Verhaltens. Ähnlich den Kindern sind auch sie meist stumme, aber gute Beobachter und fügen sich gerne einer ruhigen, folgerichtigen und liebevollen Führung. Wer den Stieren mit aufrichtiger Freundlichkeit, als Lebewesen dem gleichberechtigten Lebewesen entgegenkommt, dem sind sie bald zugetan. Weder übertriebene Sympathiebeweise noch unterdrückte Furchtgefühle sind im Umgang mit ihnen angezeigt, sie haben ein feines Empfinden dafür wem sie trauen können und wer es gut mit ihnen meint.
Der Autor betont dann die vielfach verkannte Wichtigkeit der Art der Unterbringung für die Umgangsmöglichkeiten mit den Tieren sowie für deren Wohlbefinden und Gesundheit. Er bedauert, dass an seiner Anstalt platzbedingt die Stiere kuhmäßig, also dicht nebeneinander angekettet seien und nicht in geräumigen Einzelboxen mit Sichtkontakt. Er wendet sich gegen die (damals?) vertretene Meinung, Boxen widersprächen dem Herdeninstinkt und dem Bedürfnis gegenseitiger Kontaktnahme. Zwischen dem natürlichen Herdeninstinkt und einer freiwilligen Kontaktnahme in freier Natur und dem Kontakt bei zwangsweisem Zusammengepferchtsein auf engstem Stallraum in angekettetem Zustand sei ein gewaltiger Unterschied. Menschen seien auch gesellig, lebten aber lieber in Einzelzimmern als in Massenquartieren. Es gehe letzten Endes um den notwendigen Lebensraum für das Einzelindividuum und der größere Lebensraum biete eben bessere Daseinsmöglichkeiten. Der Tierarzt zusammenfassend: Das praktisch lebenslängliche Anketten der Bullen im Stall kommt einer halben Fesselung und damit einer Tierquälerei gleich.
Aus den weiteren Ausführungen greifen wir noch einige Sätze zum psychischen Stallklima heraus. Die zweckmäßigste Ernährung und sorgfältigste Körperpflege reichten nicht aus, um hoch entwickelte Geschöpfe zu williger Mitarbeit und höchster Leistungsfähigkeit zu bringen. Dazu sei ähnlich wie bei menschlichen Säuglingen und Kindern ein bedeutsamer psychischer Aufwand notwendig: Unzählige Beweise für den Wert einer zusätzlichen psychischen Betreuung ergeben sich bei der Haustierhaltung. In Erkenntnis der Wichtigkeit einer Anteil nehmenden Liebe zur Mitkreatur haben wir uns aus ideellen und rationellen Erwägungen schon seit vielen Jahren den Stieren gegenüber in entsprechende Weise verhalten. Die Ergebnisse: Zeichen von Bösartigkeit sind uns seit Bestehen der Anstalt unbekannt geblieben. Wenn eigenwillige oder unverträgliche Altstiere in unserer Stallgemeinschaft Aufnahme fanden, so schwanden bald ihre unangenehmen Charakterzüge von selbst im guten Stallklima der Ordnung, Ruhe, Freundlichkeit und unentwegten Fürsorge. Die Bullen kommen nicht nur uns, ihren ständigen Betreuern, fast immer mit erhobenem Kopf entgegen, um Liebkosungen zu empfangen, sondern sie tun dies auch bei fremden und oft zahlreichen Besuchern… Die einfache Antwort: Wir geben den Stieren nie Anlass zu Unmutsäußerungen…..Wir streicheln die Tiere oft und reden gut zu ihnen, das merken sie sich und sie wollen dann diese für sie offenbar angenehme Empfindung wiederholt erleben…..
In der inzwischen eingestellten deutschen Zeitschrift Schutz für Mensch Tier und Umwelt war vor etwa zwanzig Jahren von einem Experiment zur Merkfähigkeit von Rindern zu lesen. Ein amerikanischer Tierpsychologe ließ ein weibliches Rind und einen Ochsen in einem Schlachthof in Chicago dem Schlachtvorgang von 150 Rindern zusehen. Dann wurde der Ochse auf eine Separatweide gebracht, die Kuh kam in eine Weideherde. Zwei Jahre später brachte der Psychologe die damals beteiligten fünf Schlachter zu den Tieren auf das Feld. Der Ochse stutzte, wurde wild und stürzte sich schließlich angstvoll in den hohen und festen Koppelzaun, wo er verletzt liegen blieb. Die Kuh brach, als sie die Männer sah, als einzige aus ihrer Herde aus und floh in panischer Angst. Der absichtlich erst 24 Stunden später eingesetzte Suchtrupp fand sie fünf Tage später 190 Kilometer entfernt bei einer fremden Rinderherde.
Über ähnliches berichtet auch Krawarik:
Scharnitz, ein sonst sehr lenksamer und gutmütiger Stier hatte beim Aufsprung die künstliche Scheide verfehlt, und wurde von seinem darob erzürnten Aushilfswärter gegen den Widerspruch des Tierarztes grob (mit dem Führungsstab am Nasenring) vom Standstier herunter gerissen. Der zweite Versuch der Absamung gelang dann ohne Widerstand. Doch als der Wärter dann am nächsten Tag, als alles schon vergessen schien, den Stier aus dem Gehege holte, griff dieser überraschend an und verletzte ihn erheblich. An anderen Wärtern vergriff sich der Stier während seines langjährigen Aufenthalts in der Besamungsstation nie.
Nun zu den Tränen: Pantle, ein äußerst ruhiger, gutmütiges Tier wurde unter Lokalanästhesie am Huf operiert, war während des Eingriffs zuerst ruhig, begann dann aber beim anschließenden Brennen der Wundfläche mit gewaltigen Befreiungsversuchen. Als es ihm nicht gelang, die Fesseln abzuschütteln, gab der Stier Schluchzen ähnliche Geräusche von sich, wobei ihm dicke Tränen über beide Wangen liefen. Der behandelnde Tierarzt meinte, dies wäre eher Reaktion auf die durch die Fesselung bewirkte Ohnmächtigkeit als auf mögliche Schmerzen gewesen, denn beim dann fortgesetzten Brennen war er wieder ruhig. Nach beendeter Operation ließ sich Pantle vorerst willig zum Stall führen, hielt dann aber plötzlich inne und war nicht mehr zu bewegen, weiterzugehen. Er hob den verbundenen Fuß seinem Wärter entgegen; erst als dieser das kranke Bein gestreichelt hatte, setzte er den Weg fort. Das setzte sich einige Tage bis zur Verbandsabnahme fort. Ging eine vertraute Person hinter ihm vorbei, drehte er den Kopf nach hinten und hob den kranken Fuß solange empor, bis er gestreichelt wurde.
Ein anderer Stier namens Kajetan war auffallend empfindsam. Fühlte er sich beispielsweise in der Reihung der Futterausgabe benachteiligt, begann er nicht wie sonst sogleich zu fressen, sondern wartete, bis der Wärter den Stall verlassen hatte. Nach zwei Jahren ausgezeichneter Leistung versagte das Tier unvermittelt ohne klinisch erkennbare Ursache. Nach etlichen vergeblichen Absamungsversuchen in Abständen mehrerer Tage, ein neuer Versuch. Wie zuvor, freudiger Aufsprung, einwandfreie Erektion, doch keine Scheidenannahme und keine Ejakulation. Auf gutes Zureden nochmals Aufspringen voll Elan, Erektion, gleichermaßen ohne Ergebnis. Nach einem dritten wieder ergebnislosen Versuch wandte Kajetan den Kopf zum Betreuer, dicke Tränen rollten über seine Wangen.
Weitere Fälle: Im elterlichen Anwesen eines Tierarztes gab es vorerst nur eine elfjährige Kuh, Mora, die da die einzige und eine fleißige Milchgeberin nach allen Regeln verwöhnt wurde. Als ein neuer Stall gebaut und der Bestand allmählich aufgestockt wurde, erhielt sie den ersten Standplatz. Nach einiger Zeit schritt man aus betriebswirtschaftlichen Gründen zu einer neuen Stallreihung. Der Tierarzt erzählt: Zur Veränderung war die ganze Familie in den Stall gekommen. Unsere Gespräche wurden erregt in unmittelbarer Nähe Mora’s geführt und öfters ist dabei auch der Name der Kuh gefallen. Wir alle konnten uns des Eindrucks nicht erwehren, dass die Kuh unser Reden als etwas für sie Unheil bringendes empfunden hat, denn sie ließ plötzlich die Ohren hängen und zeigte sich verstimmt. Der Platzwechsel wurde durchgeführt. Nur mit Gewaltanwendung war sie zum neuen Stand zu bringen. Dort angekommen, sahen wir mit Erstaunen, dass der guten Kuh dicke, runde Tränen aus den Augen über die Wange herunterrannen.Wir waren zutiefst betroffen. Der Tränenfluss dauerte länger als eine Stunde. Die Kuh war durch nichts zu trösten, sie blieb teilnahmslos und hielt den Kopf zu Boden gesenkt. Sonst über Gebühr gefräßig, versagte sie jedes Futter und jede Trankaufnahme und war für keinen Leckerbissen empfänglich. Erst am nächsten Tag fing sie langsam an, sich ins Unvermeidliche zu fügen und erst nach Tagen zeigte sie wieder ihr altgewohntes Benehmen.
Ein zweiter Fall handelt von „Rassismus“. Eine Braunviehkuh aus einer Braunviehherde kam in einen Alpenfleckviehbestand. Sie ging willig in den Stall, als sie jedoch die Fleckviehkühe sah, stoppte sie und konnte nur mit Gewalt auf ihren Platz gebracht werden. Das bis dahin frische Tier machte plötzlich einen jämmerlichen Eindruck und dicke Tränen kullerten über seine Wangen. Mehr als zwei Stunden dauerte die Tränenabsonderung. Tagelang fraß und trank die Kuh kaum und zeigte ob der sie bestaunenden Fleckviehrinder sichtliches Unbehagen. Es brauchte lange, bis sie sich an die andersfarbigen Nachbarinnen gewöhnte.
Einen dritten Fall erzählte dem Tierarzt eine Bäuerin:
Meine Kuh Ranke gebar nach einem Abortus mit vier Jahren ihr erstes Kalb. Sie hing voll Mutterliebe an ihrem Sprössling, der in einer eigenen Kälberbox aufgezogen wurde. Täglich nach dem Weidegang stand Ranke als erste beim Stalltor. Nach dem Öffnen machte sie regelmäßig einen Umweg zu ihrem Kälbchen, liebkoste es und ging dann erst auf ihren Platz. Als nach etwa zwei Wochen der Fleischer das Kälbchen holte und vor den Augen der Kuh aus dem Stall zerrte zeigte diese hochgradige Erregung, wollte sich losreißen und ihrem Kalb nachlaufen. Selbst von dem Geschehenen erschüttert bemühte ich mich, die Kuh zu beruhigen und redete ihr gut zu. Es half nicht viel, ich sah große, dicke Tränen über ihre Wangen rollen! Sie senkte schließlich den Kopf und blieb bedrückt und teilnahmslos. Tagelang wollte das Tier nicht fressen und wochenlang war es mißgestimmt. Die Kuh wurde nachher nicht mehr trächtig und musste verkauft werden.
Die weiteren Darlegungen des Tierarztes, neurophysiologischer und ethologischer Natur und zum Vorwurf der Vermenschlichung tierischen Verhaltens, lassen wir beiseite. Die Entwicklung der Wissenschaft hat manche Polemik überholt. Und ob Tränen als Ausdruck seelischen Schmerzes beim Tier menschlich oder beim Menschen tierlich sind, ist letzten Endes wenig bedeutsam. Wir halten nur die medizinisch trocken formulierte Analyse des Autors fest: In allen dargestellten Fällen sei der Tränensekretion ein Erregungszustand, ein Betroffensein über eine unangenehme, unbekannte und daher unfassbare Situation vorausgegangen.
In unserer Zeit, da das Vieh, wie man so sagt, wie Vieh behandelt wird, tun wir gut, uns zu erinnern, dass es seelisches Leid gibt, auch bei Tieren. Wir haben darum die Beispiele gebracht, gegen den Rat eines jungen engagierten Tierfreundes aus der Veterinärbranche, der meinte, Tränengeschichten könnten uns verleiten, zu übersehen dass sich Tierleid (und Menschenleid) nicht immer in Tränen äußern muss.
Noch ein kleiner Beitrag, den mir eine Kuhmagd erzählte, als es diese Berufssparte noch gab und Kühe mit der Hand gemolken wurden: Wenn sie einmal die Leitkuh – es waren zehn Kühe im Stall – nicht als erste melke, gebe die gleich weniger Milch, so sehr kränke sie sich.
Univ.Prof. (i.R.) Alfred Haiger, eine Ausnahmeerscheinung unter den Professoren der Universität für Bodenkultur, erzählte einmal von einem amerikanischen Farmer – lang, lang ist’s her – der seine Kuh, als sie mit fünfzehn Jahren nicht mehr konnte, nicht fürs Schlachthaus verkaufte sondern daheim einschläferte und begrub. Das Tier habe ihm viele Jahre treu gedient, mit seiner Milch der Familie Einkommen gegeben, das Studium der Kinder finanziert. „Soll ich ihr wegen schnöder hundert Dollar die letzten Tage zur Qual machen?“
Wie es heute alten Kühen, oder richtiger gesagt jungen, die es nach im Schnitt etwa sechs Jahren nicht mehr schaffen, gehen kann, steht in einem Mitteilungsblatt der Animal’s Angels, (animals-angels.de), die sich auf Tiertransporte konzentrieren.
Christa Blanke, Begründerin und Vorsitzende des Vereins, schreibt:
„Es ist früher Abend, als mein Telefon klingelt. Sophie ist dran. Völlig aufgewühlt erzählt sie mir von Nora. Noras Geschichte ist eine von tausenden, ihr Schicksal ist das einer deutschen ‚Milch’kuh. Sophie musste mit ansehen, wie Nora, die nicht mehr laufen konnte, mit dem Frontlader auf einen Transporter gezogen wurde, der sie zum Schlachthof bringen sollte. Ihre Beine schleiften über den Boden und die Greifklammer um ihre Hüfte zerrte sie brutal über den Hof.“ E.L.
(Aus anima Nr.2/2012)
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